Prof. Dr. med. Andreas H. Jacobs, Bonn
Neben Einschränkungen der Kognition und Mobilität zählt die Multimorbidität zu den sechs führenden geriatrischen Syndromen. Diese werden auch die 6 geriatrischen Is genannt und umfassen Instabilität, Immobilität, intellektuelle Einbußen, Inkontinenz, Isolation, und die iatrogene Störung (bei Polymedikation). Multimorbidität ist mit dem Problem verbunden, dass leitliniengerecht zahlreiche Wirkstoffe verordnet werden. Häufig liegen aber keine gezielten Studien zur Bestimmung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses vor, die Interaktionen in einem alternden Körper mit zunehmend veränderter Physiologie einbeziehen.
Die Organfunktionen nehmen mit zunehmendem Alter ab. Arzneimitteltherapeutisch relevant sind die Abnahme von Hören und Sehen, Geruch und Geschmack mit Speichelsekretion und Schluckfähigkeit, Durst- und Hungerempfinden, Magen-/Darmschleimhaut mit Säuresekretion und Motilität, Blut-Hirn-Schranke, Nierenfunktion mit Harnkonzentration und Natriumrückresorption, Lebermasse und -blutfluss, veränderte Verteilung von Muskel- und Fettmasse sowie Körperwasser. So finden sich z. B. erhöhte Konzentrationen von säurelabilen oder hydrophilen Wirkstoffen mit renaler Ausscheidung oder hepatischer Metabolisierung und längere Halbwertszeiten für lipophile Wirkstoffe.
Bei der Verordnung mehrerer Arzneistoffe im Alter sind unterschiedliche Aspekte zu berücksichtigen: Evidenz-basierte Daten liegen vorwiegend für das jüngere Lebensalter vor; Studien bei älteren und multimorbiden Patienten werden (noch) wenig gezielt durchgeführt; die Kompetenz der Medikamenteneinnahme im Alter ist eingeschränkt; als Nebenwirkungen können sich Medikamente negativ auf die geriatrischen Is auswirken; dies trifft insbesondere zu für Wirkstoffe, die das Gleichgewicht, die Kognition und die Kontinenz negativ beeinflussen; zudem sind im alternden Organismus mit abnehmender Organfunktion Pharmakodynamik und Pharmakokinetik substanziell verändert.
Eine Polymedikation mit Verordnung von mehr als sechs Medikamenten ist häufig mit Wirkungsabschwächung oder Toxizität und unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW) und insgesamt mit einer schlechten Prognose behaftet. Daher muss man sich immer wieder die Frage stellen: „Ist dieses Medikament wirklich zwingend notwendig?“ und nach der Devise handeln „Weniger ist mehr“.
Bei der Pharmakotherapie im höheren Lebensalter sollten die IDIUTI-Parameter der geriatrischen Medikation beachtet werden: Indikation, Dosis, Interaktionen, Umsetzbarkeit, Therapiemonitoring, Infragestellen der Indikation.
Eine Hilfestellung zur Detektion potenziell inadäquater Arzneistoffe im höheren Lebensalter geben die Beers-Kriterien, die Priscus-Liste und das FORTA-System. Die Beers-Liste wurde erstmals 1991 erarbeitet [2] und ist seither viermal aktualisiert worden (1997, 2003, 2012, 2015). Im Jahr 2010 wurde erstmals die Priscus-Liste veröffentlicht, die auf die nationalen Besonderheiten Deutschlands zugeschnitten ist [3].
Darüber hinaus wurde ein Vorschlag eines neuen Wertungssystems für Arzneimittel in Bezug auf ihre Alterstauglichkeit als FORTA (Fit for the aged) vorgestellt [5]. Dabei soll eine Strategie zur Verbesserung der Arzneimitteltherapie im Alter ungünstige und unverzichtbare Medikamente differenzieren [6]. Aktualisierte Studiendaten für das FORTA-System liegen für dieses Jahr vor und zeigen eine deutliche Verbesserung der Medikationsqualität und sekundärer klinischer Endpunkte in der Behandlung älterer Patienten [4, 7].
Mit der in dieser MMP-Ausgabe vorgelegten Übersetzung der im Oktober 2015 aktualisierten Beers-Kriterien [1], die auf den deutschen Arzneimittelmarkt angepasst wurde, soll deren Verbreitung und Umsetzung im klinischen Alltag unterstützt werden (ab S. 406).
Die Durchsicht der verfügbaren Medikamentenlisten ist essenziell, um die Arzneimitteltherapiesicherheit im Alter zu gewährleisten und kontinuierlich weiter zu verbessern. Ich empfehle in jedem Fall die gleichzeitige Reflexion der aktualisierten Beers-Liste mit der Lektüre der schon etwas älteren Priscus-Liste und der aktuellen FORTA-Klassifikation.
Die Wichtigkeit und Notwendigkeit dieser Hilfsmittel für die sinnvolle Pharmakotherapie des älteren Menschen wird durch die Darlegung und Analyse der Polymedikation einer 89-jährigen Dame dargelegt (ab S. 421).
Zusammenfassend wird mit dem konsequenten Gebrauch der Beers-, Priscus- und FORTA-Listen die Arzneimitteltherapie des älteren Menschen im klinischen Alltag vereinfacht, die Therapiesicherheit erhöht, UAW vermieden und damit die Güte medizinischen Handelns verbessert.
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