Dr. Bettina Krieg, Stuttgart
„Das Charakteristikum ist die wiederholte Darbietung körperlicher Symptome in Verbindung mit hartnäckigen Forderungen nach medizinischen Untersuchungen trotz wiederholter negativer Ergebnisse und Versicherung der Ärzte, dass die Symptome nicht körperlich begründbar sind. Wenn somatische Störungen vorhanden sind, erklären sie nicht die Art und das Ausmaß der Symptome, das Leiden und die innerliche Beteiligung des Patienten.“
So beschreibt die ICD-10 somatoforme Störungen (F45), die im Kapitel „Psychische und Verhaltensstörungen“ klassifiziert sind [1]. Schätzungen gehen davon aus, dass 16–31% aller Hausarztbesuche aufgrund solcher „unerklärlichen“ Beschwerden erfolgen [4]. Der Anteil dieser Patienten unter den Apothekenkunden dürfte ähnlich hoch sein. 2014 wurde in einer Studie für somatoforme Störungen eine Ein-Jahres-Prävalenz von 3,5% in der erwachsenen Allgemeinbevölkerung ermittelt [3].
Der Leidensdruck dieser Patienten ist eindeutig. Auch gehen ihre Beschwerden häufig mit depressiven Störungen einher und können – bleiben sie unbehandelt – sogar zur Arbeitsunfähigkeit führen [4].
Wird man den Patienten mit dieser Einordnung ihrer Beschwerden gerecht? Alternativ bietet die ICD-10 bei körperlichen Beschwerden ohne somatischen Krankheitsfaktor auch die Möglichkeit, diese direkt bei den jeweiligen somatischen Erkrankungen einzuordnen. Derzeit steht die Forderung im Raum, nur noch diese Art der Einordnung zuzulassen und die Kategorie „Somatoforme Störungen“ ganz abzuschaffen [2].
Das Fibromyalgiesyndrom ist seit 1994 unter „Sonstige Krankheiten des Weichteilgewebes“ eingeordet (M79). Dennoch wird die Existenz dieser Erkrankung bis heute teilweise angezweifelt.
Prof. Winfried Häuser macht in seinem Beitrag (S. 504 ff.) deutlich, wie sehr den Fibromyalgie-Patienten allein die Diagnosestellung helfen kann: So können sie sich nach teils langer, frustrierender Suche endlich der Bewältigung ihrer Erkrankung zuwenden.
Dabei lassen die Diagnosekriterien Raum für individuelle Ausprägungungen, oftmals ist eine eindeutige Abgrenzung zu anderen Krankheitsbildern schwierig. Den nicht eindeutig identifizierbaren Ursachen wird durch ein biopsychosoziales Entstehungsmodell Rechnung getragen.
Das mag auf den ersten Blick wenig greifbar erscheinen. Diese Vielschichtigkeit jedoch ermöglicht ein Krankheitsverständnis, das den Patienten umfassend einbezieht. So wird aus einer scheinbar „schwierigen“ Diagnose ein Beispiel für eine Erkrankung, bei der die Person des Patienten und seine individuelle Situation im Mittelpunkt stehen und die zudem sein aktives Mitwirken in der Therapie einfordert.
Die Diskussion über Beschwerden ohne somatischen Krankheitsfaktor ließe sich dahingehend erweitern, wie ganzheitliche Ansätze auch bei klassischen somatischen Erkrankungen noch stärker eingebracht werden können. Denn ein biopsychosoziales Wechselspiel existiert – wenn auch in jeweils unterschiedlicher Gewichtung der einzelnen Komponenten – bei allen Patienten.
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